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gelbflechte auf granit. oder: das, was vom prozess normalerweise unsichtbar bleibt

gabi brandhuber, betreiberin des textilportals und des blogs made with blümchen, sowie organisatorin der stoffspielereien, hat mich für diesen monat zu den stoffspielereien eingeladen, die jetzt im mai das thema "naturinspirierte texturen" haben. sie hatte im herbst letzten jahres meine gestickte gelbflechte gesehen, über die ich hier schon geschrieben habe.



ich hatte die arbeit schon "verbloggt", also war für mich die frage, was ich darüber noch schreiben könnte, um mich nicht einfach nur zu wiederholen.


eine idee dazu kam mir in einem meiner letzten stickworkshops für anfänger*innen zugeflogen, wo wir auf das thema kamen, wozu sampler (oder arbeitsproben, oder mustertücher, ... ) eigentlich nützlich sind. im gespräch wurde mir klar, dass beim sticken genauso wie auch bei vielen anderen künstlerischen und handwerklichen arbeiten etwas passiert, wo viele betrachter*innen von einer fertigen arbeit den falschen schluss ziehen, dass das werk quasi aus dem nichts, dem luftleeren raum, "einfach so" entstanden ist. das ist ja auch total naheliegend und verständlich, weil das ganze rundherum, das davor, der prozess, meistens nicht sichtbar ist.


hier konkret war die annahme im raum, ich hätte die idee gehabt, mir einfach garn geschnappt und angefangen, die flechte zu sticken. als ich dann erklärt habe, dass ich für genau diese arbeit einiges an garntests und tests für varianten von französischen knötchen machen musste, bevor ich wusste, welche garne es werden und in wieviele fäden ich die garne teile und wieviele wicklungen und wie fest ich die französischen knötchen sticke, war einiges an aha und erleichterung im raum. die teilnehmerin war davon ausgegangen, dass es ein zeichen für "nicht können" oder "anfängerin" (und was wäre dann eigentlich schlecht daran, anfängerin zu sein?) sei, garnproben und stickversuche zu starten, bevor man sich an das eigentliche projekt macht.


deswegen schreibe ich heute ein bisschen über den entstehungsprozess von dieser gestickten gelbflechte, um zu zeigen, dass das kein "magischer akt" oder "zauberei" ist, sondern dass dinge wie entwürfe, recherche, probestücke, garntests, etc. ganz normal sind, egal wie erfahren oder unerfahren man ist. und dass solche oder ähnliche dinge fast überall passieren rund um handwerkliche und künstlerische arbeiten. es gibt testdrucke und farbproben bei drucker*innen, ganz viele fotos, die nie gerahmt werden oder in einer ausstellung hängen oder nie bei den kund*innen landen, es gibt auch testfotos, um die bedingungen anzuprobieren, es gibt probeläufe in der darstellenden kunst, stellproben im theater oder der oper, materialproben, ... die liste ist unendlich. die vorstellung, dass man sich ein projekt ausdenkt, das material zur hand nimmt und das projekt ausführt, und dann ist es fertig, ist unrealistisch. es kommt vor, klar, aber meistens gibt's davor und dazwischen einen haufen zusätzlicher schritte und viele outtakes, tests, abfall, fails, ausschuss, dinge, die anders werden, als man sich das vorstellt. genauso wie die vorstellung, dass man mit mehr erfahrung gänzlich auf test, samples, proben, ... verzichten kann – mitnichten! klar, erfahrung bringt einen fundus an wissen über material und arbeitsmaterie, aber man kann trotz erfahrung falsch liegen und trotz erfahrung das eine oder andere lieber noch testen, bevor man an der eigentlichen version arbeitet. und dann kann's eh auch immer noch schiefgehen.


bei der gelbflechte wusste ich (auch das kam nicht aus dem nichts, aber über den prozess schreibe vielleicht ein anderes mal mehr), dass der untergrund ein stück filz werden würde, das die optik von granit oder baumrinde gut trifft, dh. der stickgrund war fix und schon vorhanden, weil ich den ein paar monate davor schon mal gefilzt hatte und der zufällig gut passte. und mein ausgangsfoto oder der impuls zu der arbeit kam von diesem foto:



ich wollte nicht exakt diese flechte sticken, sondern den charakter einer gelbflechte an diesem ort abbilden. dazu habe ich sehr viele flechten angeschaut und fotografiert. ich habe mir wissen über flechten angelesen, über ihren aufbau und ihr aussehen und ihr leben, einen flechtenführer gekauft, um auch flechten zu sehen, die nicht in meiner nähe wachsen. dabei verändert sich der blick auf die welt für eine weile auf sehr nerdige art, meine augen waren total auf das entdecken von flechten auf allen möglichen oberflächen trainiert (sind sie immer noch, sowas hört nicht einfach wieder auf).


gelbflechten kommen in allen möglichen gelb- und grünschattierungen vor je nach sonneneinstrahlung. hier ein paar beispiele:





ich wurde von menschen auf der straße angesprochen, die wissen wollte, was ich da auf der felberstraße zwischen parkenden autos an den bäumen bitteschön suche, was dann ein sehr nettes gespräch wurde über bäume in wien, das wiener baumkataster und ob flechten ein gutes oder schlechtes zeichen sind (antwort: es kommt drauf an).


also ein sehr unsichtbarer schritt, der bei mir sehr lange dauern kann – recherche und ein mich in ein thema hineinarbeiten, bevor ein projekt so weit gereift ist, dass ich die tatsächlich sichtbare arbeit anfangen kann.


weil meine inspiration ja genau diese eine flechte auf norderney war, wusste ich auch, dass ich dieses leuchtend gelbe haben wollte in meiner stickerei, und eben keine der blasseren oder grünlichen varianten. also war als nächstes farbauswahl ein thema.


ich habe mir mit hilfe einer fabrkarte passende gelb-, braun- und beigetöne von soie d'alger seidenstickgarn ausgesucht, außerdem hatte ich noch ein bündel vintage seidengarn in einigen gelbschattierungen. aus diesen garnen entstand die farbpalette.


als nächsten schritt habe ich mir die garne in unterschiedliche stärken geteilt (das vintage garn war auch eines, das sich teilen lässt) und damit testknötchen gestickt mit unterschiedlich vielen wicklungen. optimalerweise hätte ich das auf den filz gemacht, aber der war ein unikat, also hab ich die testreihe auf einem einfachen baumwollstoff gemacht. dabei ging es mir darum herauszufinden, welche kombination von garn, garnstärke und knötchen am besten die optik einer gelbflechte annimmt. hier ist ein bild vom sampler, irgendwo mittig im testen, es kamen noch mehr testknötchen dazu:




in der großaufnahme sieht man, glaube ich, dass da einige varianten dabei sind, kleine und größere knötchen (also mit mehr oder weniger wicklungen), lockere und enge, und auch welche, die eher wie kleine raupen aussehen, wo ich ausprobieren wollte, wie die extreme aussehen. was man außerdem vielleicht erahnen kann - das vinatge garn auf der linken seite beim oberen foto ist eines der eher kapriziösen sorte, will also beim versticken einigermaßen viel zuwendung und sorgfalt, damit es sich nicht bei jedem dritten stich ineinander verknotet. auch das war gut beim sample schon rauszufinden. außerdem sind beim oberen foto auch noch zwei stickgründe aus filz sichtbar, über die ich auch nachgedacht hatte. ich bin dann aber doch beim linken geblieben, das ich ursprünglich schon nehmen wollte.


nach den tests wusste ich dann, dass ich mein wunschergebnis bekomme, wenn ich soie d'alger und das vintage seidengarn jeweils zweifädig versticke und die französischen knötchen mit drei wicklungen mache.


und dann erst konnte ich anfangen, mein eigentliches projekt zu sticken, und auch da waren immer noch experimentelle phasen drinnen – wie dicht setze ich die stiche dann auf dem filz, wie gestalte ich die farbübergänge, dass sie möglichst natürlich wirken, wie sollen die einzelnen flechten geformt sein, ... das ist dann der teil, wo es nur noch die option gibt, zu machen und im machen entscheidungen zu treffen. das ist manchmal super und sehr organisch und manchmal auch zum haare raufen.


hier ist noch ein work in progress bild – ich habe den filz mit holzzwingen am tisch befestigt, dass ich beide hände zum arbeiten frei hatte, was besonders beim vintage garn auch garnicht anders gegangen wäre. ich habe mir den schritt gespart, den filz in stoff und dann in einem stickrahmen zu befestigen; der filz war von selber steif genug, dass es gut ging, ihn direkt am tisch zu befestigen.



und hier noch die rückseite der gestickten gelbflechte:


worauf ich mit diesem ganzen post rauswill: samples oder arbeitsproben sind bei mir teil der arbeit und extrem hilfreich. und wenn's nur zum zweck dient, einen stich wieder flüssig und rhythmisch in die finger zu kriegen, und dann das projekt gleichmäßiger ausarbeiten zu können. ich finde, man lernt materialien total gut kennen, wenn man sie in verschiedenen varianten ausprobiert und testet nur um des experiments willen. über die zeit bekommt man so auch einen schönen verlauf vieler projekte und eine sammlung unterschiedlicher techniken, die man bei fragen einfach rausnehmen und sie in ruhe wieder anschauen kann (falls man sie findet - mein sampler für die gelbflechte ist akutell verschollen; er kann nicht weit sein, aber ich komm nicht drauf, wo ich ihn hingeräumt habe. das besser nicht nachmachen!).


und es zeigt eben auch, dass zum erarbeiten eines projekts auch die teile dazugehören, wo es unordentlich, unfertig, nicht richtig, etc. aussieht, weil das eben die experimente sind, die man macht, um rauszufinden, was funktioniert und was nicht. und um herauszufinden, was nicht funktioniert, muss auch das nicht funktionieren irgendwie mal stattfinden. und dafür ist ein sampler ein echt guter ort, finde ich.


224 Ansichten20 Kommentare

20 commenti


Ospite
29 mag

Deine Flechte auf Filz gefällt mir sehr. Vor Jahren habe ich auch mal ein Probestück mit Flechten gemacht, die Idee dann aber nicht weiterverfolgt. Bei allem Probieren war es für mich und offensichtlich für dich keine Frage, die Flechten werden mit französischen Knoten dargestellt. Deine verschiedenen gelben Seiden machen sich sehr gut für die Flechten. LG Gabi - langer-faden

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liebe gabi, danke für deinen besuch und deinen kommentar. ich hatte tatsächlich noch alternative stiche recherchiert, aber für diese art flechte keinen passenderen gefunden. und ich mag einfach so gerne die oberflächenstruktur, die französische knötchen ergeben. falls du die flechtenidee doch irgendwann weiterführst, sag doch bescheid, mich würde deine version auch sehr interessieren! liebe grüße, anja

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Ospite
29 mag

Diesen Beitrag habe ich sehr interessiert gelesen und es zeigt (mir), dass man tatsächlich nicht zu viel Zeit in sein Hobby stecken kann und es eben tatsächlich viel Übung braucht.

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Ospite
28 mag

Das ist ein wunderbarer Blick "hinter die Kulissen". deiner Arbeit. Nachdem ich gesehen habe, womit du dich insgesamt beschäftigst, verstehe ich dein akribisches Vorgehen. Und der bestickte Filz ist im ERgebnis ganz wundervoll - inkusive Aufhängung. Danke.

LG Siebensachen

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danke, liebe siebensachen! es gibt auch projekte, die nicht so sehr vom akribischen leben, aber ja, die flechte war definitiv eines der ausführlicheren projekte wo es ganz und garnicht um's machen und passieren lassen ging. ... die clips zum aufhängen sind voll praktisch, und vor allem leicht austauschbar. liebe grüße, anja

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Ospite
28 mag

Für mich sind die Probestücke, die Entwürfe, das Ausprobieren meistens spannender und lehrreicher als die abschließende Arbeit. Was Betrachter und Außenstehende von den Teststücken halten ist ohne Bedeutung. Die edle Stickseide ist wunderschön geeignet, um die feinen Farbnuancen der Flechte wiederzugeben, die Ästhetik der Natur ist immer wieder eindrucksvoll. Liebe Grüße von Tyche

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liebe tyche, ja, das hast du sicher recht – die probestücke und entwürfe sind definitiv lehrreich, und ich mag dann auch das wachsen eines projekts, da zeigen sich oft andere dinge, die bei den teststücken nicht so in den vordergrund treten. vielleicht aber auch nur, weil meine teststücke oft eher klein sind, und die projekte dann erst zum vorschein bringen, was im kleinen einfacher oder anders ist als die große version oder die menge. spannend ist irgendwie beides. danke für deinen besuch & liebe grüße, anja

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Ospite
27 mag

der "point de nœud" ist nicht einfach * finde deine serie fotos spannend da flechten oft nicht betrachten wird obwohl sie zauberhaft sind und es soviele arte in der natur gibt

prima dein werk !

lieber gruss mo * merlecolibri

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liebe mo, danke für deinen besuch! ja, das stimmt, flechten werden so leicht übersehen und sind doch so spannende lebensformen ...


lieben dank dir & liebe grüße, anja

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